Vorlesen ist eine wahre Superkraft!

Wenn Eltern oder Großeltern ihren Kindern vorlesen oder mit ihnen sprechen, schenken sie ihnen Aufmerksamkeit und fördern sie zugleich. Denn: Vorlesen ist eine wahre Superkraft! Es unterstützt die sprachliche Entwicklung, regt die Fantasie an und kann Ruhe in den stressigen Alltag bringen. Und das Großartigste: Es macht Spaß und geht immer und überall. 

Damit alle Eltern ihren Kindern vorlesen können, gibt es bundesweit in allen teilnehmenden Kinder- und Jugendarztpraxen nun Lesestart-Sets. Das sind kleine Stofftaschen mit Bilderbüchern und mehrsprachigen Informationen für Eltern. Familien können die Sets bei der U6- und U7-Vorsorge erhalten, wenn ihr Kind ein bzw. zwei Jahre alt ist. Für Kinder ab drei Jahren gibt es ab dem Winter 2021 ein weiteres Set in den teilnehmenden Bibliotheken. Die Stiftung Lesen aus Mainz führt das Programm durch. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Wieso das Vorlesen und Erzählen so wichtig für die ganzheitliche Entwicklung von Kindern ist, haben wir Sabine Bonewitz, Leiterin des Lesestart-Programms bei der Stiftung Lesen und Dr. Sigrid Peter, Kinder- und Jugendärztin und Vizepräsidentin des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte e. V., gefragt. 

Was haben Vorlesen, das Sprechen und Erzählen mit der Gesundheit meines Kindes zu tun? 

Dr. Sigrid Peter: Sprache bedeutet Kommunikation mit anderen Menschen und mit ihnen in Kontakt treten. Sie eröffnet Zugänge zu anderen Menschen und zu Informationen. Vorlesen und Erzählen regt zudem die Fantasie an und macht glücklich. Gesund zu sein heißt auch, zufrieden zu sein. Und dazu können das Sprechen, Erzählen und Vorlesen beitragen.

Sabine Bonewitz: Gespräche mit Kindern, das Vorlesen und Erzählen, stärken auch die Bindung zwischen Kind und Eltern. Beim gemeinsamen Anschauen von Bilderbüchern, beim Spielen damit und beim darüber Sprechen, richten Eltern ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihr Kind. Das spürt das Kind und genießt die intensive Nähe. Und das positive Gefühl von Geborgenheit und Zuwendung wirkt sich natürlich auch auf das gesamte Wohlbefinden des Kindes aus. Kinder behalten diese Erfahrung als positive Erinnerung im Gedächtnis. Vorlesen und Erzählen unterstützt auch eine gute Entwicklung unseres Gehirns. Es ist eine wahre Superkraft, denn es macht glücklich und wir lernen dabei.

Kinder mit einem und zwei Jahren sind ja noch sehr klein, sitzen beim Vorlesen vielleicht nicht still oder hören nicht zu. Warum werden die Sets so früh ausgegeben? 

Dr. Sigrid Peter: Sprachförderung fängt mit dem Beginn des Lebens an. Viele Mütter und Väter reden mit dem ungeborenen Kind. Nach der Geburt beginnt die unmittelbare Kommunikation. Das Glück und die Freude über das Kind wird direkt mit ihm geteilt, ebenso wie Kummer und Sorgen. Daher ist die Ausgabe der Lesestart-Sets eine wichtige Fortsetzung einer begonnenen Kommunikation mit einem besonderen Blick auf das Vorlesen. Zumal die Bücher dem Alter und der Aufmerksamkeitsspanne entsprechend gestaltet sind. 

Sabine Bonewitz: Das Anschauen von Bilderbüchern wirkt sich schon ganz früh, ab ca. 6 Monaten, positiv auf die Entwicklung der Kinder aus. Am Anfang nehmen Kinder die Bücher mit allen Sinnen wahr. Sie wollen die kleinen Bücher aus dicker Pappe im wahrsten Sinn des Wortes begreifen, in den Mund nehmen, mit ihnen spielen. Da geht es noch gar nicht darum, einer Geschichte von Anfang an zu folgen oder in einer richtigen Reihenfolge durchzublättern. Bilderbücher für die Jüngsten schaffen zuerst einmal Gesprächsanlässe für Eltern und ihre Kinder. Das, was ihnen im kindlichen Alltag begegnet, können sie in den Bilderbüchern nacherleben. Mit der Zeit können sie immer mehr den kleinen Erzählungen folgen und lernen auf diese Weise viele neue Wörter. Diese bilden die Basis für eine erfolgreiche sprachliche Entwicklung.  

Wird die Sprache meines Kindes beim Kinderarzt untersucht?

Dr. Sigrid Peter: Bei Vorsorgeuntersuchungen, wie der U6 und der U7, wird auch untersucht, wie sich die Sprache eines Kindes entwickelt. So stellen die Ärztinnen und Ärzte fest, ob ein Kind Unterstützung in diesem Bereich braucht. Bei der U7a, die bei den 3-jährigen durchgeführt wird, ist die Beobachtung des Entwicklungsstandes, insbesondere der Sprachentwicklung, bedeutsam. Durch die Erkennung von Sprachentwicklungsverzögerungen kann früh- und rechtzeitig gefördert und gegebenenfalls therapiert werden. Wenn Eltern ihrem Kind regelmäßig vorlesen, regen sie damit die sprachliche Entwicklung ihres Kindes an.

Im Gelben Heft steht, dass Kinder mit einem Jahr, bei der U6, bspw. Silben bilden können, bei der U7 mit etwa zwei Jahren mindestens 10 richtige Worte und bei der U7a mit etwa drei Jahren mindestens Dreiwortsätze sprechen sollen. Muss ich mir Sorgen machen, wenn mein Kind bei den Vorsorgeuntersuchungen nicht das kann, was im Gelben Heft steht? 

Dr. Sigrid Peter: Für die Beurteilung des auffälligen Entwicklungsstandes benutzen wir die sogenannten Meilensteine. Kinder haben ein sehr unterschiedliches Tempo in ihrer Entwicklung. Das kann man mit einem Rennen vergleichen, bei dem Zwischenzeiten genommen werden. Manche Läufer sind sehr schnell und haben den Meilenstein rasch erreicht. Dann kommt eine große Gruppe zusammen dort an und zuletzt die etwas langsameren Läufer, die mehr Zeit benötigen und den Meilenstein später erreichen. Ein ganz kleiner Teil kommt sehr stark verspätet oder gar nicht dort an. Die letzte Gruppe ist die, die wir frühzeitig entdecken wollen, um rechtzeitig Hilfen einzuleiten. Die Vorgaben im „Gelben Heft“ dienen als Richtschnur für den Entwicklungsstand der Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wenn Kinder den sogenannten Meilenstein nicht erreichen, ist es notwendig zu fördern.

Ist es wichtig, dass Eltern auf Deutsch vorlesen und erzählen? Worauf sollten Eltern bei der Wahl eines Buches für kleine Kinder im Alter von einem bis drei Jahren achten? 

Sabine Bonewitz: Beim Vorlesen ist es am besten, wenn die Eltern in der Sprache „ihres Herzens“ vorlesen – also in der Sprache, in der sie sich am wohlsten fühlen. Das kann, muss aber nicht die deutsche Sprache sein. Viele Eltern befürchten, sie würden schlecht vorlesen. Aber darum geht es gar nicht: Für ein kleines Kind gibt es nichts Schöneres, als die vertraute Stimme von Mama und Papa zu hören.

Dr. Sigrid Peter: Eltern sollen die ihnen vertraute Sprache nutzen. Die Sprache des Landes, in dem die Kinder leben, erlernen sie spielend in ihrem sozialen Umfeld und während der Kindergartenzeit. Bei zweisprachig aufwachsenden Kindern ist das Erlernen der Mutter- und Vatersprache kein Problem und die deutsche Sprache, wenn sie nicht eine von beiden ist, wird ebenso schnell gelernt. Glücklicherweise gibt es eine riesige Auswahl von Büchern für jedes Lebensalter. Hilfreich zur Orientierung sind die Alterskennzeichnungen, aber auch die Vorlieben des Kindes. So interessiert sich das eine Kind mehr für Tiere und das andere mehr für Fahrzeuge – auch schon im Alter von einem Jahr. Die Interessen des Kindes zu berücksichtigen und es mitbestimmen zu lassen, ist wichtig.

Was würden Sie Eltern gern mit auf den Weg geben?

Dr. Sigrid Peter: Lesen und Zuhören bedeutet viel mehr als Information durch Worte. Es ist gemeinsam verbrachte Zeit, Nähe und Austausch miteinander in einem Tempo, das anders als bei digitalen Medien individuell bestimmt wird. Es sind Ausflüge in ferne und fremde Welten. Es sind Reisen in die Vergangenheit und in die Zukunft. Es ist die Auseinandersetzung mit alltäglichen Fragen, die viele andere Menschen auch beschäftigen. Es macht Spaß und bringt Entspannung. Lesen ist wie Nahrung, die wir täglich benötigen. 

Sabine Bonewitz: Wir wollen Eltern zeigen, dass es zum Vorlesen und Erzählen keine besonderen Fähigkeiten und keinen großen Zeitaufwand braucht, sondern dass das ganz flexibel im Alltag eingebaut werden kann. Egal, ob man an der Bushaltestelle steht, beim Arzt im Wartezimmer sitzt oder die Zeit überbrückt, bis das Essen fertig ist. Ein paar Minuten zusammen in eine Geschichte abtauchen macht Spaß und fördert Kinder in ihrer ganzheitlichen Entwicklung. 

Weitere Informationen finden Eltern und Interessierte hier: www.lesestart.de

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